Wasser, Mehl und Kinderblut (Ritualmordlegende)
Im 19. Jahrhundert kursierte in Asien das Gerücht, dass Europäer_innen Kinder töten, um deren Blut zu trinken. So verrückt das auch klingen mag, daran glaubten viele. Das gleiche Gerücht wurde im Mittelalter über jüdische Menschen verbreitet. Und viele Europäer_innen glaubten an diese vermeintlichen Ritualmorde von Kindern.
Mit dem Gerücht lässt sich das Verschwinden von Kindern sehr einfach erklären. Wenn Kinder vermisst wurden, war der Sündenbock schnell gefunden: Juden_Jüdinnen wurden beschuldigt, das Verbrechen begangen zu haben. Statt den wahren Grund für das Verschwinden aufzuklären, wurden sie unschuldig verurteilt und ermordet. Diese Verschwörungserzählung eignete sich außerdem dazu, Gewalt und Hass zu schüren. Die Menschen rächten sich für das vermeintliche Verbrechen an den Beschuldigten. Die Täter_innen glaubten, dass die Verfolgung und Ermordung jüdischer Menschen die gerechte Strafe für die angeblichen Ritualmorde sei.
Wo kommt es her, wie ist es entstanden und warum?
Im Mittelalter wurde die Ritualmordlegende durch die katholische Kirche verbreitet. Die Menschen erzählten sich, dass Jüdinnen_Juden christliche Kinder an Pessach, einem jüdischen Fest, entführten und ermordeten. Anschließend würden sie das Blut der Kinder trinken oder für die Herstellung von Matzen, einem ungesäuerten Brot, verwenden. Dass Matzen ausschließlich aus Mehl und Wasser bestehen, hinderte die Menschen nicht daran, die grausame Lüge zu glauben. Die Geschichte wurde erzählt, um die Menschen davon zu überzeugen, dass das Judentum böse sei, und um von eigenen Verbrechen abzulenken.
Was ist daran antisemitisch?
Die Ritualmordlegende unterstellt dem Judentum, ein religiöses Ritual zu pflegen, dass Gewalt an Kindern ausübt. Dass die Tora, die »jüdische Bibel«, den Mord an Menschen ausdrücklich verbietet, ist scheinbar egal. Es wird behauptet, dass Juden_Jüdinnen aufgrund ihrer kulturellen und religiösen Zugehörigkeit böse sind und Kinder umbringen. Die Verschwörungserzählung geht so weit, dass sie zur Vernichtung aller jüdischer Menschen aufruft, um die angeblichen Ritualmorde zu beenden.
Wie hat sich das Motiv weiterentwickelt?
Während der NS-Zeit wurde die Ritualmordlegende verwendet, um den Massenmord an Juden_Jüdinnen zu rechtfertigen. Doch auch danach blieb die Verschwörungserzählung in den Köpfen vieler Menschen. In Polen kam es nach 1945 zum Mord an 40 Überlebenden des Holocausts. Die tödlichen Übergriffe wurden 1946 durch das Gerücht eines vermeintlichen Ritualmordes an einem Kind ausgelöst. Auch in weiteren polnischen Städten kam es zu gewaltsamer Verfolgung jüdischer Menschen, die gerade erst aus den Konzentrationslagern befreit worden waren.
Wer sagt das heute?
Die Ritualmordlegende findet sich heute zum Beispiel im Ausruf: »Kindermörder Israel!« wieder. Dabei wird das Wort »Israel« als Ersatz für Jüdinnen_Juden verwendet. Es handelt sich um eine Form des israelbezogenen Antisemitismus.
Eine moderne Variante der Ritualmordlegende wird auch in rechtsradikalen Verschwörungskreisen und auf den »Corona-Demos« verbreitet. Dort wird behauptet, dass ein »Geheimbund« aus Politiker_innen und (vermeintlichen) Juden_Jüdinnen aus dem Blut entführter Kinder ein Verjüngungsmittel herstelle. Besonders neu ist diese Verschwörungserzählung also nicht und im Kern genauso antisemitisch wie die Ritualmord-Erzählungen aus dem Mittelalter.