Zionismus
Die europäischen Gesellschaften waren im 18. und 19. Jahrhundert von tiefgreifenden Wandlungsprozessen geprägt. Anders als im Mittelalter sollte nicht mehr die Zugehörigkeit zur Kirche und zum Adelshaus entscheidend sein, sondern die zur Nation. Diese Idee war vollkommen neu und mit zahlreichen Fragen verbunden: Wie sollte die Nation definiert sein? Wer sollte zur Nation gehören und wer nicht? Wo sollten die unterschiedlichen Nationalstaaten liegen und wo ihre Grenzen verlaufen? All dies war vollkommen unklar. Landkarten mit Staatsgrenzen, Pässe, Bürgerrechte und nationale Identitäten, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht.
Für Jüdinnen_Juden in Europa war diese Zeit eine große Chance. So versprachen beispielsweise die Ideale der Französischen Revolution (1789-1799) – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – eine Integration in die Mehrheitsgesellschaft und damit ein Ende der Diskriminierung und Verfolgung. Viele dachten, dass sie unter dem Dach eines neu geschaffenen französischen Nationalstaats als gleichberechtigte französische Bürger_innen leben könnten. Auch aus anderen Regionen Europas blickten viele Juden_Jüdinnen gespannt auf diese Entwicklungen. Sie hofften, dass sich auch ihre soziale und rechtliche Situation bald verbessern würde. Es sollte jedoch noch viele Jahrzehnte und zahlreiche Rückschläge dauern, bis die »Judenemanzipation«, also die rechtliche Gleichstellung der Juden_Jüdinnen, in zahlreichen Ländern abgeschlossen war.1
Die Hoffnung war jedoch nur von kurzer Dauer, denn trotz ihrer rechtlichen Gleichstellung blieben Jüdinnen_Juden auch weiterhin massiven Anfeindungen ausgesetzt. Zudem entwickelte sich eine ganz neue Form des Judenhasses – der moderne Antisemitismus. Antisemit_innen begründeten ihren Hass auf Juden_Jüdinnen nicht mehr allein mit religiösen Argumenten, sondern mit allerlei Verschwörungserzählungen. Außerdem behaupteten sie, dass die Jüdinnen_Juden Fremde und Feinde seien und nicht zu ihrer Nation dazugehören könnten. Besonders in Osteuropa lösten diese judenfeindlichen Erzählungen immer wieder schreckliche Pogrome aus, bei denen tausende Jüdinnen_Juden ermordet wurden.
Enttäuscht und erschrocken von diesen Entwicklungen, kamen unter den Jüdinnen_Juden Europas ganz unterschiedliche Antworten auf. In West- und Mitteleuropa glaubten viele, dass man sich bestmöglich anpassen müsse, um von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden. In Osteuropa, wo es zahlreiche zusammenhängende jüdische Dörfer und Städte gab, in denen man mit Jiddisch sogar eine eigene Sprache hatte, waren viele der Ansicht, dass man sich in einer eigenen Partei organisieren müsste. Ihr Ziel war es, als eigenständige Gruppe mit nationalen Minderheitsrechten anerkannt zu werden. Eine deutlich kleinere Gruppe von jüdischen Intellektuellen kam zu einer ganz anderen Lösung: Statt auf den guten Willen anderer oder auf bessere Umstände in der Zukunft zu hoffen, wollten sie einen eigenen Staat gründen. Er sollte ein selbstbestimmtes Leben, frei von antisemitischer Diskriminierung ermöglichen und allen Jüdinnen_Juden einen sicheren Zufluchtsort bieten. Diese Idee wurde bald als Zionismus bekannt.
Die zionistische Bewegung war schon in ihrer Anfangszeit extrem breit aufgestellt. Denn wo und vor allem wie ein Staat für die Juden_Jüdinnen geschaffen werden sollte, wurde ganz unterschiedlich beantwortet. Neben Vorschlägen, Ländereien in Nord- oder Südamerika zu erwerben, bestanden andere darauf, ins Heilige Land zu ziehen. Die Region Palästina, die in der jüdischen Überlieferung seit jeher als Eretz Israel bekannt ist, war immer schon ein zentraler religiöser und kultureller Bezugspunkt – selbst für die damals mehrheitlich nichtgläubigen Zionist_innen. Für viele bot sich der kleine Landstrich am östlichen Mittelmeer deswegen als einzig legitimer Ort an, auf dem ein neuer Staat für die Juden_Jüdinnen gegründet werden könnte.2
Die Region Palästina gehörte damals noch zum Osmanischen Reich. Dennoch gelang es einigen zionistischen Gruppen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, Ländereien aufzukaufen, auf denen sie erste Dörfer errichten konnten. In ihnen ließen sich Jüdinnen_Juden aus Russland nieder, die vor dem dortigen Antisemitismus flüchteten. Weitere Einwanderungswellen, die in Hebräisch Aliyot genannt werden (Singular Alyah), setzten am Anfang des 20. Jahrhunderts ein, als Jüdinnen_Juden aus Polen, der Ukraine und Russland abermals zur Flucht gezwungen waren. Sie fanden in den Dörfern und zu Städten angewachsenen Ortschaften nicht nur Schutz, sondern konnten auch ganz neue Formen des Zusammenlebens praktizieren. Inspiriert von sozialistischen Idealen versuchten sie in sogenannten Kibbutzim ihre Arbeit, die Kindererziehung und andere Aufgaben gemeinsam zu lösen und gleichberechtigt zu verteilen. In den darauffolgenden Jahren wurden nach und nach Schulen, Krankenhäuser und andere wichtige Institutionen begründet, die staatliche Aufgaben vorweg nahmen.
Nachdem das Osmanische Reich auseinanderfiel, übertrug der Völkerbund (der Vorgänger der Vereinten Nationen) Großbritannien 1920 die Verwaltung über die Region. Der Zionismus erlangte dabei internationale Legitimität, da das Völkerbundmandat die »Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina« vorsah. Aufgrund des Drucks von arabischen und islamischen Bewegungen, die ebenso Anspruch auf das Land erhoben, verweigerten die Briten jedoch bald jede jüdische Einwanderung. Selbst während des Holocaust, als die europäischen Jüdinnen_Juden einen sicheren Zufluchtsort am nötigsten brauchten, hielten die Briten die Grenzen geschlossen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg gaben die Briten bekannt, dass sie die Verwaltung nicht mehr übernehmen wollten. Die Vereinigten Nationen schlugen deswegen vor, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat zu trennen. Während die Zionist_innen dem Vorschlag zustimmen und in ihrem Teil am 14. Mai 1948 den Staat Israel ausriefen, verweigerte die arabische Seite den Vorschlag und griff den jüdischen Staat an. Erst nach zahlreichen Verlusten und der Flucht und Vertreibung vieler Menschen auf beiden Seiten, konnten 1949 Waffenstillstandsabkommen geschlossen werden. Beendet war der Konflikt damit noch lange nicht.3
Die zionistische Vision eines eigenen Nationalstaates, der ein Zufluchtsort für alle Jüdinnen_Juden darstellt, hatte sich 1948 verwirklicht. Neben zahlreichen Holocaust-Überlebenden nahm Israel wenige Jahre nach seiner Gründung allein 900.000 Jüdinnen_Juden auf, die aus den arabischen Ländern und dem Iran flüchten mussten. Diese Schutzfunktion nimmt Israel bis heute wahr. Für viele Jüdinnen_Juden stellt Israel aber auch einen religiösen, kulturellen oder familiären Bezugspunkt dar. Zionismus bzw. das Bekenntnis zu Israel gilt ihnen deswegen als Teil ihrer jüdischen Identität.
Battenberg, Friedrich: Judenemanzipation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/battenbergf-2010-de ↩︎
Kerstin Armborst-Weihs: Die Formierung der jüdischen Nationalbewegung im transnationalen Austausch: Der Zionismus in Europa bis zum Ersten Weltkrieg, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/armborstweihsk-2010-de ↩︎
Kloke, Martin: Die Entwicklung des Zionismus bis zur Staatsgründung Israels, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 2010-12-03. URL: http://www.ieg-ego.eu/klokem-2010-de ↩︎