Struktureller Antisemitismus
Der strukturelle Antisemitismus hetzt nicht offen gegen »die Juden«, sondern benutzt Codes wie »die Hochfinanz« oder »die Ostküste« und betreibt eine verkürzte, personalisierte und moralisierende Kritik an Wirtschafts- und Herrschaftsverhältnissen. Dabei bedient er sich derselben Vorurteilsstrukturen, Argumentationsformen und alter antijüdischer Bilder wie der klassische Antisemitismus und verzichtet auf eine differenzierte Betrachtung wirtschaftlicher und politischer Strukturen.
Dieser Ansatz scheint die komplexe Welt vermeintlich »einfach« zu erklären. Doch diese Vereinfachung bringt eine Verfälschung mit sich und macht »die Juden« zum »Sündenbock«. Die Zusammenhänge im globalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystem sind schwierig zu durchschauen. Zugleich sind alle Menschen ständig mit ihren konkreten Erscheinungsformen konfrontiert, oft auf schmerzhafte Weise, weil sie vielleicht ihren Job verlieren oder zu wenig verdienen, während ihr_e Arbeitgeber_in oder andere Unternehmen hohe Gewinne an Anteilseigner_innen ausschütten.1
Kapitalismuskritik argumentiert dann antisemitisch, wenn sie die Abkopplung des »Finanzkapitals«2 vom »Industriekapital«, die berechtigterweise diskutiert wird, als absolut darstellt. Der Einfluss von Finanzinvestor_innen ist bedeutsam, jedoch liegt ihrem Handeln auch nur das Streben nach Gewinnmaximierung zugrunde, das der Kern jedes kapitalistischen Wirtschaftens ist. Kritik an der Profitorientierung sollte darauf achten, sich auch nicht unbewusst an Bildern des »jüdischen Wucherers«3 oder des »reichen Juden« anzulehnen. Diese Gefahr besteht besonders bei der strikten Trennung zwischen dem Geldkreislauf und der Produktionsebene. Der Geldkreislauf wird als Kernproblem identifiziert, dem die Produktionsebene vermeintlich ausgeliefert ist. Beide Bereiche sind jedoch eng verbunden.
Eine reine Kritik am Geldsystem, das die Welt bedrohe, ist leicht anschlussfähig an die Vorstellung der »Geldjuden«, die besonders vom Geldsystem profitierten, und an die antisemitische Unterscheidung von »raffendem« und »schaffendem« Kapital, die im Nationalsozialismus stark verbreitet wurde und heute noch in rückschrittlicher personalisierter Kritik an »den Finanzmärkten« vorkommt.4
Ein weiterer Aspekt ist die Ablehnung der Moderne, die die europäischen Gesellschaften grundlegend verändert hat. Traditionelle Rollen und vermeintlich klare Verhältnisse, die als unantastbar galten, wurden und werden infrage gestellt. Emanzipation, Individualismus und Rationalität treten an die Stelle von klaren Regeln, religiösen Dogmen, kulturellen Traditionen.
Antisemitisches Denken lehnt diese Moderne ab. Antisemitismus als »negative Leitidee der Moderne« macht Jüdinnen_Juden die Moderne, also die Zeit der Aufklärung, die feste Traditionen aufbrach, zum Vorwurf.5 Sie stehen aus dieser Sicht für alles in der modernen Welt, was von Antisemit_innen als bedrohlich wahrgenommen wird.
Antisemitismus ist ein Weltbild aus Ressentiments (Abneigungen aus einem Gefühl der Unterlegenheit) und Verschwörungserzählungen, die die Welt erklären sollen. So wandelbar diese sind, so klar richten sie sich immer wieder gegen Jüdinnen_Juden, auch wenn die konkreten Aussagen »nur strukturell« an klassische antisemitische Muster anschließen.
Antisemitismus sagt nichts Reales über jüdische Menschen aus, sondern darüber, was Antisemit_innen im Kopf haben. Jüdinnen_Juden können das antisemitische Weltbild durch ihr Verhalten auch nicht verändern, da es sich aus den emotionalen Bedürfnissen der Antisemit_innen speist. Antisemitismus ist mit Jean Paul Sartre zu verstehen als eine Verbindung aus Weltanschauung und Leidenschaft, eine Art zu denken und zu fühlen: »Da der Antisemit Haß gewählt hat, müssen wir schließen, daß er den leidenschaftlichen Zustand liebt.«6
Samuel Salzborn spricht davon, dass »der moderne Antisemitismus die Unfähigkeit und Unwilligkeit, abstrakt zu denken und konkret zu fühlen«7 sei. Damit ist gemeint, dass im antisemitischen Weltbild das Denken konkret, das Fühlen aber abstrakt sein soll. Hierbei werde die nicht ertragene Widersprüchlichkeit der Moderne auf das übertragen, was der_die Antisemit_in für jüdisch hält. Diesem begegnet er_sie dann heftig erregt, wütend und hasserfüllt und legitimiert sich dabei durch die ausgedachten Gerüchte scheinbar selbst.
Antisemitismus ist also zunächst ein Problem antisemitisch denkender Personen. Da Antisemitismus jedoch so weit verbreitet ist in Denkmustern und Strukturen und ein so wirkmächtiges Weltbild ist, ist er eine Gefahr sowohl für Jüdinnen_Juden als auch für jede freie und demokratische Gesellschaft.
Vgl. Tom Uhlig (2020): Antisemitismus im linken Spektrum https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307887/antisemitismus-im-linken-spektrum (Zugriff 16.4.2021) ↩︎
Siehe beispielsweise Thomas Sablowski (2009): Die Ursachen der neuen Weltwirtschaftskrise in: KJ Kritische Justiz, Seite 116 - 131 KJ, Jahrgang 42 (2009), Heft 2, https://doi.org/10.5771/0023-4834-2009-2-116 ↩︎
Vertiefung dazu: Das Feindbild des „jüdischen Wucherers“, www.baustein.dgb-bwt.de/C2/Wucherer.html (Zugriff 17.4.2021) ↩︎
Vgl. Die Ausführungen zu problematischer Finanzmarktkritik im Interview mit Daniel Keil zur Ausstellung »Das Gegenteil von Gut. Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968«, https://youtu.be/vn3Z-e5_AVI (Zugriff 16.4.2021) ↩︎
Samuel Salzborn (2020): Was ist moderner Antisemitismus?, www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307644/was-ist-moderner-antisemitismus (Zugriff 4.4.2021) ↩︎
Jean-Paul Sartre (1994): Überlegungen zur Judenfrage. Deutsch von Vincent von Wroblewsky, Rowohlt Taschenbuch, Reinbek b. Hamburg, S. 15. ↩︎
Samuel Salzborn (2020): Was ist moderner Antisemitismus?, H.i.O., www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307644/was-ist-moderner-antisemitismus (Zugriff 4.4.2021) ↩︎