(Schuldabwehrender) Antisemitismus nach Auschwitz
Das Kernmotiv des Antisemitismus nach Auschwitz ist die Abwehr und Relativierung deutscher Schuld an der Shoah (hebräisch für Katastrophe, Bezeichnung des Holocaust). Das Menschheitsverbrechen der Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen_Juden mit dem Ziel der Vernichtung des Judentums stand nach 1945 dem Wunsch einer ungebrochenen Identifikation mit der deutschen Nation im Weg.
Anstatt die menschenverachtenden Taten des NS-Regimes umfassend aufzuarbeiten, wurde eine schnelle Normalisierung angestrebt. Zur Relativierung der Schuld wird im antisemitischen Diskurs seitdem eine Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Das heißt, man gibt Jüdinnen_Juden eine Mitschuld an ihrer Vernichtung, überbetont »deutsches Leid« im Zweiten Weltkrieg oder behauptet angesichts von Entschädigungsforderungen, Jüdinnen_Juden wollten vom Holocaust »profitieren«.
Der israelische Psychoanalytiker Zvi Rix beschrieb es so: »Die Deutschen werden den Juden Auschwitz nie verzeihen«.1 Nachdem offener Antisemitismus gesellschaftlich tabuisiert war, bildete sich ein Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz. Judenfeindliche Vorurteile wurden nicht öffentlich geäußert, aber die bloße Existenz von Jüdinnen_Juden nach der Shoah wurde als Bedrohung Deutschlands wahrgenommen. Sie weckte bei der deutschen Mehrheitsbevölkerung Scham- und Schuldgefühle. Dieser schuldabwehrende oder »sekundäre« Antisemitismus – sekundär im Sinne von zeitlich nach Auschwitz – macht »die Juden« für eigene Schuldgefühle, gekränktes Nationalbewusstsein und die am liebsten verdrängte, aber erforderliche Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen verantwortlich. Die Verdrängung der Shoah und ihre Relativierung sind antisemitisch, weil sie das enorme jüdische Leid nicht anerkennen oder »den Juden« eine Mitschuld an ihrer Verfolgung und Vernichtung geben. Dieses Denken sieht Jüdinnen_Juden weiter als »die Anderen« und als Problem, um von der Gefahr des Antisemitismus für Jüdinnen_Juden und die Gesamtgesellschaft abzulenken. So setzt sich Ausgrenzung in anderer Form fort.
Schuldabwehrender Antisemitismus äußert sich beispielsweise in Leser_innenbriefen, Reden, im Internet oder in Schreiben an jüdische Institutionen. Um nicht zu offensichtlich antisemitisch zu argumentieren, wird oft über Umweg kommuniziert: Statt von »den Juden« wird von der »Ostküste«, einer »zionistischen Lobby« oder »Israel« gesprochen. Um Kritik an antisemitischen Aussagen abzuwehren, wird dann oft eine »Antisemitismuskeule« behauptet, als ob der Vorwurf des Antisemitismus schlimmer sei als Antisemitismus selbst.
Es gibt auch immer noch sehr offene Formen wie die Instrumentalisierung der Bombardierung Dresdens am 13. und 14. Februar 1945 durch Neonazis und Sympathisant_innen: Seit vielen Jahren mobilisieren sie zum vermeintlichen »Gedenken« an die deutschen Todesopfer der Bombardierung. Trauer und Gedenken werden bewusst instrumentalisiert, um den Holocaust an den europäischen Jüdinnen_Juden zu relativieren und Geschichte im Sinne eines nationalsozialistischen Weltbildes umzudeuten. Sie nennen die Bombardierung “Bombenholocaust« und blenden die Kriegsschuld Deutschlands aus. Der NPD-Politiker Holger Apfel nannte die Bombardierung Dresdens 2015 im sächsischen Landtag einen »industriellen Massenmord an der Zivilbevölkerung«, um sie so auf eine Stufe mit dem tatsächlichen industriellen Massenmord im Holocaust zu stellen.
Die Auseinandersetzungen um die Abwehr deutscher Schuld und Verantwortung wird also stark über Sprache, Gleichsetzung, Instrumentalisierung und Täter-Opfer-Umkehr geführt. Nur Dank breiter antifaschistischer Mobilisierung gibt es in Dresden nicht mehr jeden Februar den größten Neonaziaufmarsch Europas wie noch in den 2000er Jahren, aber rechte Antisemit_innen treffen sich dort weiterhin jedes Jahr.2
Eine weitere Form ist »opferidentifiziertes Gedenken"3. Dabei eigenen sich Nachfahren deutscher Täter_innen ein Selbstbild als »gefühlte Opfer“ an, um sich von der Schuld zu befreien. Mit den Opfern zu fühlen ist wichtig, um die Vergangenheit erfassen zu können und daraus zu lernen. Einfühlungsvermögen darf jedoch nicht zur Überidentifikation als Opfer führen. Sonst kippt es wie auf Anti-Corona-Demos, auf denen Menschen sich gelbe »Judensterne« mit der Aufschrift »ungeimpft“ ankleben oder sich mit Sophie Scholl im Widerstand gegen den Nationalsozialismus vergleichen.4 Wer sich an die Stelle der Opfer der Shoah setzt, nimmt eine antisemitische Wirkung mindestens in Kauf. Eine Aktion des »Zentrums für politische Schönheit« lieferte hierfür ein plakatives Beispiel, indem es angeblich die Asche ermordeter Jüdinnen_Juden in einer Gedenksäule präsentierte. Charlotte Knobloch, Präsidentin der israelitischen Kultusgemeinde München, nannte diese Aktion ohne Rücksicht auf die Opfer und ihre Nachfahren »geschmacklos, taktlos und pietätlos“.5
Schuldabwehrenden Antisemitismus gibt es also in Bezug auf die nationalsozialistischen Verbrechen und auf aktuelle judenfeindliche Äußerungen, die als harmlos oder gerechtfertigt umgedeutet werden. Eine Folge der mangelnden Aufarbeitung des Antisemitismus nach Auschwitz ist, dass er häufig nicht als solcher erkannt wird: Wer Antisemitismus ausschließlich mit der ihm innewohnenden Vernichtung identifiziert, nimmt judenfeindliche Vorurteile, Beschimpfungen und Übergriffe oft nicht als antisemitisch und gefährlich wahr.
Zitiert nach Meron Mendel (2020): Moralische Selbsterhöhung, Jüdische Allgemeine vom 5.10.2020, https://www.juedische-allgemeine.de/politik/moralische-selbsterhohung/ (Zugriff 10.4.2021); Hintergrundinformationen: DGB-Bildungswerk Thüringen e. V. (2008): Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit, https://www.baustein.dgb-bwt.de/C2/DieDeutschen.html (Zugriff 10.4.2021) ↩︎
Siehe: JFDA (2021): Rechtsextremer Opfermythos und Geschichtsrevisionismus - Dresden 13.02.2021 https://www.jfda.de/post/rechtsextremer-opfermythos-und-geschichtsrevisionismus-dresden-13-02-2021, (Zugriff 13.4.2021) ↩︎
Ulrike Jureit und Christian Schneider (2011): Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung, 2. Aufl., Klett-Cotta, Stuttgart ↩︎
Siehe Meron Mendel (2021): Keine Selbstidentifikation, taz vom 7.4.2021, https://taz.de/Den-eigenen-Hintergrund-hinterfragen/!5758937/ (Zugriff 14.4.2021) ↩︎
Beschrieben und zitiert in: Tom Uhlig (2020): Antisemitismus im linken Spektrum https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307887/antisemitismus-im-linken-spektrum (Zugriff 9.4.2021) ↩︎