Moderner Antisemitismus
Die Entstehung des modernen Antisemitismus in Europa ist durch die großen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Veränderungen im 19. Jahrhunderts begründet.
Durch die industrielle Revolution veränderte sich der Alltag der Menschen, der zuvor durch feudale Strukturen, Landwirtschaft und Handwerk geprägt war. Neue Arbeitsformen bildeten sich heraus und es entstand das Wirtschaftssystem, das wir heute als Kapitalismus kennen. Während davor die Menschen gezwungen waren, auf den Feldern der Feudalherren zu arbeiten, arbeiten sie nun für Geld für kapitalistische Unternehmer. Damit haben sich die Abhängigkeiten gewandelt: Während man früher von der Gunst des Fürsten abhängig war, war man dies nun von den Gegebenheiten des Marktes.
Das führte zu starken Verunsicherungen und neuen Herausforderungen für die Menschen. Die klare Ordnung von Adel und Kirche des Feudalismus löste sich auf. Die Gesellschaft wurde um einiges undurchsichtiger als früher und einfache Erklärungen, warum die Welt ist wie sie ist, fielen weg. Das führte auch zu politischen Veränderungen. Das aufstrebende Bürgertum, das an den wirtschaftlichen Veränderung beteiligt war, erlangte größere Macht. Möglich wurde dies unter anderem durch die Aufklärung und die Französische Revolution, die die Vorstellung von allgemeiner Freiheit und Gleichheit aller Menschen in die Gesellschaft trugen.
Damit einher ging auch die zunehmende Gleichberechtigung von Jüdinnen_Juden und deren Einbindung in das Bürgertum. Vorher wurde die Existenz jüdischer Gemeinden in vielen Teilen Europas und Deutschland mit Ablehnung und Missgunst betrachtet. So kam es zum Beispiel in Köln 1798 zur Abschaffung des Niederlassungsverbotes. Jüdinnen_Juden durften sich dort nun wieder ansiedeln.
Das löste aber auch große Widerstände aus. Die Forderungen nach der Rücknahme einer solchen Gleichberechtigung wurden lauter und es entstanden gewalttätige Auseinandersetzungen. So kam es etwa 1819 zu den sogenannten Hep-Hep-Unruhen, in denen Jüdinnen_Juden gewaltsam verfolgt und vertrieben wurden. Sie begannen in Würzburg und breiteten sich auf weitere Städte des damaligen Deutschen Bundes und darüber hinaus aus.
Eine weitere bedeutsame politische Veränderung war die Entstehung eines extrem starken Nationalismus. Dieser verschärfte die Vorstellungen des »Eigenen« und »Fremden« sowie die Frage nach der Zugehörigkeit zur Nation. Es entstand die Idee, dass Menschen bestimmte gemeinsame Vorfahren haben müssen, um zur nationalen Gemeinschaft dazuzugehören. Davon wurden Jüdinnen_Juden in der Vorstellung von Antisemit_innen prinzipiell ausgeschlossen. Sie galten als ein »heimatloses Volk« und als »Parasiten«, die sich an einer anderen Nation festnagen. Darin sieht man eine Fortschreibung alter Zuschreibungen, die etwa aus dem christlichen Antijudaismus kommen.
So wurden Jüdinnen_Juden körperlich entstellt (etwa hässlich und mit Hakennase) oder gar als Tiere dargestellt. Außerdem wurden spezielle unveränderbare Charaktereigenschaften konstruiert, die Jüdinnen_Juden vermeintlich nicht ablegen könnten. Es kursierten auch alte Bilder von jüdischen Bettler_innen oder Händler_innen, die die alte Vorstellung untermalten, dass Jüdinnen_Juden nicht produktiv arbeiten und nur auf Kosten anderer leben würden.
Vereinzelte erfolgreiche Jüdinnen_Juden wurden als Aushängeschild für alle Jüdinnen_Juden genommen und unterstellt, dass Jüdinnen_Juden einen (zu) großen Einfluss hätten. In diesem Kontext wurde der Name Rothschild zu einem Synonym für eine angeblich alle Fäden ziehende Bankiersfamilie. Dieses Stereotyp ließ natürlich außer Acht, dass es viele verarmte jüdischen Bürger_innen gab und dass die Herausbildung größerer Banken viel mehr mit der allgemeinen Entwicklung des Bürgertums zusammenhing.
Diese Vorurteile verdichteten sich im Laufe der Zeit zu einer allgemeinen Weltanschauung, die auch politische Folgen hatte. Es entstand eine regelrechte politische Bewegung gegen Jüdinnen_Juden. 1879 gründete Wilhelm Marr die sogenannte Antisemiten-Liga. Auf ihn geht auch der Begriff Antisemitismus zurück, der damals noch eine stolze Selbstbezeichnung war und die aktive Feindseligkeit gegenüber Jüdinnen_Juden ausdrückte. Bis 1945 wurde der Antisemitismus viel offener ausgetragen und er entwickelte sich zu so etwas wie einem kulturellen Code, ein Wiedererkennungszeichen im Denken von Antisemit_innen, welches in allen politischen Lagern vorkam und auf aktive oder passive Zustimmung stieß.
Generell wurden Jüdinnen_Juden mit allen negativen Vorkommnissen der Modernisierung in Europa verbunden und mussten als Sündenböcke für den gesellschaftlichen Wandel und Krisen herhalten. Es entstanden sehr widersprüchliche Vorstellungen: Mal ist der Jude Kapitalist_in, dann Kommunist_in, mal Kriegstreiber_in, dann Friedensliebhaber_in. Was den modernen Antisemitismus kennzeichnet, ist, dass er sehr gegensätzliche Vorurteile in sich vereinen kann.
War im christlichen Antijudaismus alles Jüdische böse, gilt im modernen Antisemitismus alles Böse als jüdisch. Aus diesem Grund denken sich Antisemit_innen immer in einem ewigen Kampf von Gut gegen Böse. Damit es der Welt und den Menschen besserginge, müsse das Jüdische vom Erdboden verschwinden und die Menschen müssten davon erlöst werden. Die extremste Ausprägung erhielt diese Vorstellung bei den Nationalsozialist_innen. Deren Ziel war es, alle Jüdinnen_Juden umzubringen. Traurigster Höhepunkt dessen ist der Holocaust mit sechs Millionen jüdischen Opfern.
Den modernen Antisemitismus gibt es auch heute noch. Alte antisemitische Klischees wie die von ›geschäftstüchtigen‹ oder ›übermächtigen‹ Jüdinnen_Juden haben die Zeit überdauert und auch heute noch Bestand, selbst wenn der offen propagierte Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts heute als Tabu gilt.
Literatur
Benz, Wolfgang (2009): Zum Verhältnis von Ideologie und Gewalt, in: Salzborn, Samuel (Hrsg.): Antisemitismus – Geschichte und Gegenwart, Gießen, S.33-50
Bernstein, Julia (2019): »Mach mal keine Judenaktion!« Herausforderungen und Lösungsansätze in der professionellen Bildungs- und Sozialarbeit gegen Antisemitismus, Frankfurt am Main
Klarzyk, Birte (2020): Genese des Antisemitismus. Ein historischer Überblick zur Entwicklung antisemitischer Motive und Stereotype, in: Killguss, Hans-Peter/Meier, Marcus/Werner, Sebastian (Hrsg.): Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Grundlagen, Methoden & Überlegungen, Frankfurt am Main, S. 16-31
Salzborn, Samuel (2014): Die Genese des Antisemitismus in Europa, in: ders.: Antisemitismus. Geschichte, Theorie, Empirie, Baden-Baden, S. 11-23
Wyrwa, Ulrich (2010): Moderner Antisemitismus, in: Benz, Wolfgang (Hrsg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 3, Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin/New York, S. 209-214