Antisemitismus
WTF?

Antisemitismus in der Linken

»Antisemitismus von links« mag wie ein Widerspruch in sich erscheinen. Das Bedürfnis, sich die Welt antisemitisch zu erklären, gehört zum Kern eines rechtsradikalen Weltbildes. Linke Weltbilder und Gruppen verschreiben sich in der Regel dem Kampf für Freiheit und Gleichheit, was der Abwertung einer Menschengruppe entgegenstehen sollte.

Dennoch gibt es antisemitisches Gedankengut innerhalb linker politischer Zusammenhänge. Es gibt keinen ausschließlich linken oder rechten Antisemitismus: »Antisemitismus ist Antisemitismus«1. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und in jedem politischen Spektrum sowie in unterschiedlichsten Ausformungen anzutreffen, sei es völkisch-rassistisch, christlich oder islamisch. Das Zerrbild der »Rothschilds als Strippenzieher« wird beispielsweise von Antisemit_innen unterschiedlichster politischer Richtung genutzt.2 Manche Linke wehren jede Kritik ab, als ob sie frei von Antisemitismus und anderen diskriminierenden Einstellungen seien aufgrund ihrer politischen Verortung. Diese Idee eines »Freifahrtscheins« steht einer reflektierten Selbstkritik im Weg, die zum Erkennen eigener problematischer Vorurteile aber nötig ist.3

In der Linken gibt es zwei besondere Einfallstore für antisemitisches Gedankengut: Antikapitalismus und Antiimperialismus.

Antikapitalismus, also der Einsatz gegen eine kapitalistische, auf Gewinnmaximierung ausgerichtete Wirtschaftsweise, wird dann antisemitisch, wenn er abstrakte wirtschaftliche Strukturen personalisiert und direkt oder indirekt »den Juden« zuschreibt. Durch die Gleichsetzung von Jüdinnen_Juden und Kapital im »jüdischen Kapital« werden diese als Sinnbild des Kapitalismus bekämpft. Beim Feindbild des »reichen Juden« stehen jüdische Kapitaleigentümer_innen im Fokus. Die vielen nicht-jüdischen Kapitalist_innen werden dagegen kaum personalisiert angegangen. Ein Beispiel dafür lieferte der Frankfurter Häuserkampf gegen die Grundstücksspekulation der 1970er Jahre. Insbesondere der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde, Ignatz Bubis, der an der Spekulation mit mehreren Grundstücken beteiligt war, stand als »jüdischer Kapitalist« in der Kritik, obwohl die Ursache für die Spekulation die Stadtentwicklungspolitik war. Für einen Teil der Protestbewegung und der öffentlichen Meinung war es attraktiv, einen konkreten Juden ins Visier zu nehmen, der die Rahmenbedingungen nutzte, statt die Stadtpolitik oder andere Spekulant_innen zu kritisieren.4

Ein weiteres Beispiel für antisemitische Symbole in linken Protestbewegungen und strukturellen Antisemitismus ist der riesige Krake mit Dollarzeichen, mit der eine linke Jugendorganisation die Macht des Geldes bei den G20-Protesten in Hamburg 2017 darstellte.5 Auch hier werden abstrakte Strukturen personalisiert und moralisch skandalisiert. Die Tiermetaphorik ist anschlussfähig an alte antisemitische Bilder. Gerade der Krake steht seit langem für die behauptete »Macht der Juden«, die die ganze Welt mit ihren Fangarmen beherrsche und aussauge.

Ein zweites Einfallstor für Antisemitismus ist der Antiimperialismus6, also der Kampf um nationale Selbstbestimmung gegen mächtige Staaten. In der Linken richtete sich der Kampf in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegen die USA und seit 1968 zunehmend gegen Israel. Die Palästinenser_innen werden als passive Opfer der nationalen Selbstbestimmung Israels gesehen und ihr Kampf für einen eigenen Staat wird solidarisch unterstützt. Teilweise geht dies zulasten des Existenzrechts Israels, das als westliches Kolonialprojekt degradiert wird.7

Oft wird behauptet, jede Kritik an der israelischen Regierung, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Besatzung des Westjordanlands, werde durch eine »Antisemitismuskeule« verunmöglicht. Tatsächlich wird die Politik Israels laufend kritisiert, in Israel und weltweit. »Israelkritik« kann ein »Türöffner für judenfeindliche Einstellungen«8 sein – insbesondere, wenn antijüdische Bilder auf Israel als neues Feindbild übertragen werden. Das ist dann israelbezogener Antisemitismus.

Ein weiteres Einfallstor für Antisemitismus nicht nur, aber auch in linken Kreisen, kann der rücksichtslose Einsatz für Tierrechte sein: Wenn mit Blick auf Massentierhaltung von »Hühner-KZ« oder »Hühner-Holocaust«9 die Rede ist, wird die Massenvernichtung von jüdischen Menschen in der Shoah relativiert.


  1. Stefanie Schüler-Springorum (2017): Blick über die eigene Schulter. Interview von Fiona Sara Schmidt, in: an.schläge, Das feministische Magazin, H. VII, S.8-9, https://anschlaege.at/blick-ueber-die-eigene-schulter/ ↩︎

  2. Vgl. Interview mit Ismail Küpeli im Rahmen der Ausstellung »Das Gegenteil von Gut. Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968«, www.youtube.com/watch?v=otaa3XW7hB0, (Zugriff 7.4.2021) ↩︎

  3. Interview mit Ismail Küpeli im Rahmen der Ausstellung »Das Gegenteil von Gut. Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968«, www.youtube.com/watch?v=otaa3XW7hB0, (Zugriff 7.4.2021) ↩︎

  4. Vgl. Micha Brumlik über Antisemitismus im Frankfurter Häuserkampf im Rahmen der Ausstellung »Das Gegenteil von Gut. Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968«, www.youtube.com/watch?v=DxVCOW25haI (Zugriff 16.4.2021) ↩︎

  5. Siehe Foto von Jutta Ditfurth: www.facebook.com/Jutta.Ditfurth/photos/pcb.1262205643909051/1262205123909103 (Zugriff 16.4.2021) ↩︎

  6. Vgl. Tom Uhlig (2020): Antisemitismus im linken Spektrum https://www.bpb.de/politik/extremismus/antisemitismus/307887/antisemitismus-im-linken-spektrum (Zugriff 9.4.2021) ↩︎

  7. Für eine zugespitzte Einordnung siehe: Samuel Salzborn (2018): Globaler Antisemitismus. Eine Spurensuche in den Abgründen der Moderne, Beltz Juventa, S. 83 ff. ↩︎

  8. Interview mit Ismail Küpeli im Rahmen der Ausstellung »Das Gegenteil von Gut. Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968«, www.youtube.com/watch?v=otaa3XW7hB0, (Zugriff 7.4.2021) ↩︎

  9. Interview mit Jutta Ditfurth im Rahmen der Ausstellung »Das Gegenteil von Gut. Antisemitismus in der deutschen Linken seit 1968«, www.youtube.com/watch?v=t6g29N9yJxA (Zugriff 7.4.2021) ↩︎

Beispiele